Im juristischen Kampf um Menschenrechte muss man alle Gelegenheiten nutzen und eine breit angelegte Strategie entwickeln

Victoria Bera and Esther Kiobel, two widows who lost husbands to execution in 1995, file a civil court case in the Netherlands.

Photo: EFE/EPA Bart Maat


Martín Abregú schreibt vollkommen zu Recht, dass Rechtsnwält_innen „eine eher ganzheitliche Sicht auf die übergeordnete Situation werfen [und mitberücksichtigen] sollten …, dass sich auch jenseits der gerichtlichen Entscheidung etwas bewirken lässt“.

Ähnliche Überlegungen haben dazu geführt, dass wir die Arbeit im European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), einer in Berlin ansässigen Organisation zur transnationalen Rechtsdurchsetzung, eher als „juristische Interventionen“ denn als strategische Prozessführung begreifen. Für uns bedeutet das, offen zu sein für sich zufällig ergebende Interventionen und – wann immer möglich – die juristische Strategie mit begleitenden sozialen und politischen Aktionen zu verbinden.

Es sei daran erinnert, dass viele der wichtigsten Fälle im Bereich der Menschenrechtsprozesse nicht Teil eines strategischen Plans waren. Als Peter Weiss und das Center for Constitutional Rights (CCR) 1980 die Klage im Fall Filártiga einreichten, geschah es als schnelle Reaktion auf die Anwesenheit des paraguayischen Staatsbürgers Americo Peña-Irala in den USA. Er war 1976 in Paraguay am Foltertod von Joelito Filártiga beteiligt gewesen. Filártigas Familie und die Anwälte gründeten ihre erfolgreiche Klage auf ein längst vergessenes Gesetz: den Alien Tort Claims Act von 1789. Damit ebneten sie den Weg für viele andere Fälle und schufen einen Modellfall für Menschenrechtsverfahren in aller Welt.

In ähnlicher Weise ließ sich der spanische Anwalt Carlos Castresana von Massendemonstrationen gegen die Straflosigkeit in Buenos Aires inspirieren und stellte im März 1996 unter dem spanischen Statut zur universellen Jurisdiktion die erste Strafanzeige gegen Generäle der argentinischen Militärdiktatur. Seine Aktion war nicht mit den argentinischen und chilenischen Exilgemeinden in Spanien abgesprochen, führte aber später zu historisch beispielhaften Ermittlungen nach dem Weltrechtsprinzip zu Menschenrechtsverletzungen in Argentinien und Chile. Im Oktober 1998 führte das schließlich sogar zur Verhaftung von Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet in London.

Diese beiden außergewöhnlichen juristischen Siege in Menschenrechtsverfahren waren nicht das Ergebnis einer langfristigen Strategie, sondern eher experimentelle und risikoreiche Entscheidungen von Einzelnen und Anwält_innen – Wegbereiter_innen mit sehr viel Intuition für die Schaffung eines politischen Momentums.

Menschenrechtsorganisationen aus aller Welt und Anwält_innen versuchten, zunächst in den USA und später auch in Europa, vor allem in Spanien und Belgien, an diese Erfolge anzuknüpfen. Ihre Bemühungen waren nicht sonderlich „strategisch“. In der Tat sind das Scheitern des sich auf den Alien Tort Claims Act stützenden Kiobel-Falls vor dem Obersten Gerichtshof der USA und die fast vollständige Abschaffung der Gesetze zur universellen Jurisdiktion in Belgien (und später auch in Spanien) möglicherweise ein Zeichen dafür, dass die Risiken dieses Vorgehens nicht richtig beurteilt wurden. Unterschätzt haben die Anwälte wohl auch die Ressourcen und die Macht der Gegner des Weltrechtsprinzips – mächtige Staaten und Konzerne.

Natürlich gibt es auch gute Beispiele für strategisch angelegte Menschenrechtsprozesse, bei denen der strategische Einsatz von juristischen Instrumenten mittel- und langfristig geplant wurde, um gegen untragbare Menschenrechtssituationen vorzugehen. Zu nennen sind da beispielsweise die Arbeit des Kurdish Human Rights Project in London, einige Migrantengruppen, die Prozesse vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angestrengt haben, oder die Klage des Human Rights Law Networks vor dem Obersten Gericht Indiens.

Es ist in mehrfacher Hinsicht problematisch, sein Augenmerk ausschließlich auf Gerichtsverfahren zu richten und Menschenrechtsprozesse als „strategisch“ zu bezeichnen. Denn es führt zu einer Art Selbstüberschätzung und einer sehr verengten Sichtweise seitens der Anwält_innen und derjenigen, die sie vertreten. Allein mit Gerichtsverfahren lassen sich die komplexen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme nicht lösen. Wie Jules Lobel in seinem Buch über verlorene Rechtsfälle vor US-Gerichten, Success Without Victory, beschreibt, gibt es einen Wirkungszusammenhang zwischen Gerichtsverfahren und sozialen und politischen Bewegungen. Juristische Bemühungen müssen in breiter angelegten sozialen und politischen Aktivitäten eingebettet sein, denn die meisten Menschenrechtsverletzungen werden systematisch verübt, wohingegen Prozesse sich häufig auf Einzelfälle konzentrieren (bestenfalls noch auf symbolische Fälle, die für ein bestimmtes Problem stehen). In Urteilen von Strafprozessen gegen einzelne Täter_innen oder gegen Unternehmen aufgrund individuellen Fehlverhaltens oder gar gegen Staaten kommen die Ursachen der systematischen Menschenrechtsverletzungen häufig nicht zur Sprache.

Abregús Feststellungen gelten auch jenseits von autoritären und illiberalen Regimen. Tatsächlich sind die Aushöhlung des Völkerrechts und vor allem auch die Aushöhlung der Menschenrechte, die wir derzeit erleben, zum Teil auf die Doppelzüngigkeit des Westens auf diesem Gebiet zurückzuführen. Der systematische Einsatz von Folter durch die USA nach den Anschlägen vom 11. September und die illegale Invasion im Irak 2003 trug dazu bei, dass autoritäre und illiberale Herrscher in aller Welt argumentieren, der Westen verfolge beim Völkerrecht einen instrumentalistischen Ansatz. Andere haben daraus gelernt und nutzen das Völkerrecht jetzt auf die gleiche Art aus. Herrscher wie Putin und Erdogan rechtfertigen heute ihre illegalen Aktionen mit dem Verweis auf westliche Länder. Deshalb ist es auch wichtig, in den USA und in Europa Prozesse zu führen, um Menschenrechtsstandards zu wahren. Um einen wirklich universellen Ansatz zu entwickeln, sollten westliche Nichtregierungsorganisationen den Fokus nicht länger auf einzelne politische und Bürgerrechte setzen , sondern auch vor Gericht ziehen, um wirtschaftliche und soziale Rechte durchzusetzen und zu schützen. Rechtsverfahren können positiv oder negativ ausgehen, aber die wichtigste Frage ist, ob ein Prozess zu sozialen Veränderungen beitragen kann.

Erfahrene Anwält_innen können in ihren juristischen Interventionen manchmal Erfolge erzielen, wenn sie schnell reagieren. Die richtige Intuition bei der Risikoabwägung ist beispielsweise besonders wichtig in den Fällen, in denen es um die Verteidigung der Rechte völlig ausgegrenzter Personen wie den Guantánamo-Gefangenen geht. Um aber gegen systematischere Menschenrechtsverstöße oder gar deren Ursachen vorzugehen, sollten Klagen möglichst mit einer breiteren Bewegung verbunden sein; wobei auch hier eine sorgfältige Analyse der Gesamtrisiken nötig ist.

Gleichzeitig dürfen sich juristisch arbeitende Organisationen nicht  auf das beschränken, was in einem engeren Sinne „realistisch“ ist und den Argumente von Richter_innen und Staatsanwält_innen vorauseilend nacheifern. In ihrem Buch Evidence for Hope weist Kathryn Sikking darauf hin, dass „Fortschritte bei den Menschenrechten immer das Ergebnis von Aktivismus und Kampf waren und dass so ein Fortschritt sich nicht von allein einstellt, sondern auf dauerhaften Engagement und Einsatz angewiesen ist“. Sie verweist auf den Philosophen Albert O. Hirschman, der uns daran erinnert, dass es wichtig ist „die Grenzen von dem, was als möglich erachtet wird“ auszuweiten. Niemand hatte die bahnbrechenden Erfolge in den Fällen Filártiga und Pinochet erwartet.