Akademische Freiheit neu denken und akademische Solidarität konzeptualisieren

Kredit: Alejandro Ospina

Der 2022 aktualisierte Academic Freedom Index (AFI) zeigt, dass die akademische Freiheit in den letzten zehn Jahren weltweit abgenommen hat. Es ist alarmierend zu sehen, dass "der Rückgang der akademischen Freiheit in Westeuropa und Nordamerika, einschließlich des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika, die lange Zeit als Bastionen der akademischen Freiheit und der wissenschaftlichen Exzellenz galten, beschleunigt wurde". Interessant ist auch, dass nur zwei Länder, nämlich Gambia und Usbekistan, zwischen 2011 und 2021 einen signifikanten Anstieg des AFI aufweisen. Eine oberflächliche Analyse des AFI könnte uns daher zu dem Schluss kommen lassen, dass die traditionelle hegemoniale Kluft zwischen dem Norden und dem Süden verschwindet, wenn es um den aktuellen Stand der akademischen Freiheit geht.

Die Autoren weisen außerdem auf den Zusammenhang zwischen dem Rückgang der akademischen Freiheit und dem Rückgang des allgemeinen Demokratieniveaus hin und stellen fest, dass "der Rückgang der akademischen Freiheit mit einer sich beschleunigenden und verstärkenden Welle der Autokratisierung einhergeht". An dieser Stelle soll erläutert werden, warum die stärksten Rückgänge der AFI in Hongkong, Brasilien, der Türkei und Thailand zu verzeichnen sind, bzw. warum die Autoren diese Länder als "potenzielle Gefahrenzonen" für Forscher und Studenten bezeichnen.

Dies veranlasst uns, eine Verbindung zu den aktuellen akademischen Solidaritätsinitiativen herzustellen und auf einen Widerspruch in der Praxis hinzuweisen. Das Scholars At Risk Network, das gefährdete Wissenschaftler aus der ganzen Welt unterstützt und an der Entwicklung des AFI beteiligt ist, betrachtet derzeit das Risiko für gefährdete Wissenschaftler aus der Türkei als gering und hat die Tendenz sie nicht mehr weiter zu unterstützen. Dies geschieht auf der Grundlage der falschen Annahme, dass die gefährdeten Wissenschaftler aus der Türkei einfach dorthin zurückkehren und eine Tätigkeit an einer Universität aufnehmen könnten, oder (ein Problem, das auch Wissenschaftler aus anderen Ländern betrifft) dass sie leichten Zugang zum hart umkämpften akademischen Arbeitsmarkt in Europa und in Nordamerika hätten oder sich in kurzer Zeit mit Stipendien in die vorherrschenden Drittmittelsysteme für ihre Forschungsprojekte integrieren könnten. Eine detailliertere Analyse dieser Fragen findet sich im Bericht des Inspireurope-Projekts, das den europäischen Umgang mit gefährdeten Forschern analysiert. 

Dies wirft ein drittes Problem auf, das bei der Beurteilung des Maßes der akademischen Freiheit leider zu wenig bedacht wird. Im AFI wird die Amtszeit oder die Arbeitsplatzsicherheit nicht als Indikator berücksichtigt. Die Autoren begründen dies damit, dass sie in erster Linie Indikatoren betrachten, die einen Vergleich der verschiedenen Hochschulsysteme der Welt erlauben. Dagegen kann man argumentieren, dass diese Art von Daten leichter zu vergleichen und zu erheben ist als viele andere im AFI verwendete Indikatoren. Die entscheidende Frage ist hier, was es bedeuten würde, die Arbeitsplatzsicherheit in den Index aufzunehmen. Die Antwort ist recht einfach: Alle westlichen Länder und Universitäten würden bei der Gewährleistung akademischer Freiheit schlechter abschneiden, insofern sie einen hohen Prozentsatz an prekärer akademischer Arbeit an ihren Einrichtungen ausweisen. Am AFI-Ansatz wäre daher zu kritisieren, dass der neoliberale Angriff auf die akademische Freiheit, nämlich der Rückgang der Festanstellung und der Arbeitsplatzsicherheit, sowie ein weit verbreitetes System der Drittmittelfinanzierung ebenfalls als eine große Bedrohung der akademischen Freiheit angesehen werden sollte.

Dieser letzte Punkt hilft uns bei dem Versuch, akademische Solidarität zu konzeptualisieren. Auf der Grundlage verschiedener philosophischer und soziologischer Ansätze zur Solidarität, von denen die meisten von Jolanta Bieliauskaitė zusammengefasst wurden, vertrete ich die Auffassung, dass wir grob gesagt von zwei Arten akademischer Solidarität sprechen können. Die erste Art würde ich als akademische Drittmittel-Solidarität bezeichnen, die zweite Art als engagierte akademische Solidarität. Es sollte gewürdigt werden, dass es derzeit viele Organisationen und Netzwerke von Universitäten in Europa und Nordamerika gibt, die die akademische Freiheit schützen und geflüchtete und vertriebene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützen. Ihr wichtigstes Unterstützungsinstrument sind Stipendien, meist für zwei Jahre. Nach Ablauf dieser Drittmittelfinanzierung befinden sich die Wissenschaftler in einer hilflosen Lage, da die Gastuniversitäten in der Regel keine weiteren Mittel zur Verfügung stellen und keine unbefristete Stelle anbieten. Es ist also eine schmerzliche Tatsache, dass mit dem Ende der Drittmittelfinanzierung auch die akademische Solidarität endet! Anhand dieser Tatsache lassen sich einige Merkmale der akademischen Drittmittel-Solidarität ableiten:

Diese Art der akademischen Solidarität basiert auf der instrumentellen und utilitaristischen Perspektive des neoliberalen Hochschulbetriebs, der von Marktfundamentalismus und Wettbewerb geleitet wird. Sie setzt Solidarität mit einer rationalen Kalkulation von Ressourcen und Ergebnissen sowie mit den Vorteilen für instrumentell kooperierende Personen und Institutionen gleich. Sie akzeptiert den Status quo und unterwirft sich den bestehenden Machtstrukturen. Sie wird in erster Linie von den Machtstrukturen, den Marktregeln und den Drittmittelgebern bestimmt, die allesamt nicht in erster Linie wissenschaftliche Kriterien und Qualitäten berücksichtigen. Daher "blockiert sie die emanzipatorische Praxis und die Möglichkeit [einer echten, breiteren] Solidarität" innerhalb der akademischen Gemeinschaft.

Der zweite Typus, die engagierte akademische Solidarität, ist definitiv eine umfassendere Solidarität, die auf kulturellen und ethischen Werten und den daraus entstehenden sozialen Verpflichtungen beruht. Sie setzt Solidarität mit einem Gefühl der Verbundenheit innerhalb der akademischen Gemeinschaft und der Gesellschaft gleich. Mit anderen Worten, die engagierte Solidarität und ihre engagierten Mitglieder "streben nicht nur nach Genuss und Nutzen", sondern handeln auch auf der Grundlage dieser heute global "verinnerlichten Werte und gemeinsamen Normen" der akademischen Gemeinschaft. Wie der Philosoph Gadamer feststellt, muss diese echte Solidarität bewusst sein. Der entscheidende Punkt ist also, sich der gemeinsamen Ziele einer solchen Solidarität bewusst zu sein. Es gilt, diese Art von echter akademischer Solidarität "bewusst zu schaffen, zu fördern und zu pflegen" und zwar über eine enge Drittmittel-Solidarität hinaus.

Wie Bieliauskaitė richtig feststellt, gehen das Wohl der Gesellschaft und das Wohl der akademischen Gemeinschaften Hand in Hand. Daher sollten wir nicht vergessen, dass eine engagierte akademische Solidarität vor allem dazu beitragen würde, unser gemeinsames Ziel des Schutzes der Rechte und Freiheiten des Einzelnen in unseren Gesellschaften zu erreichen.

Editor's note (February 21, 2023): This article originally stated that Scholars at Risk no longer plans to provide support for scholars in Turkey. It has been updated for clarification.